Interviews Thomas Schadt über den Dokumentarfilm im Wandel

Thomas Schadt über den Dokumentarfilm im Wandel

Thomas Schadts Buch über die Dramaturgie des Dokumentarfilms gilt als Standardwerk -- wir haben die Neuauflage zum Anlaß genommen, uns mit ihm über ein Genre in Auflösung zu unterhalten, über Glaubwürdigkeit und Kreativität, den Unterschied zwischen Dramaturgie und Storytelling und vieles mehr.

// 15:04 Di, 11. Apr 2017von

Als Standardwerk zum Thema darf man mittlerweile Thomas Schadts Buch über die Dramaturgie des Dokumentarfilms bezeichnen. Wir haben die Neuauflage zum Anlaß genommen, uns mit dem Autor über die aktuelle Situation des Dokumentarfilms zu unterhalten – ein Genre in Auflösung – und die nicht sehr rosigen Berufsaussichten klassischer Dokumentarfilmer. Aber auch über die Gründe, weshalb man dennoch nicht pessimistisch sein sollte. Außerdem über Glaubwürdigkeit im Zeitalter des Mißtrauens den Medien gegenüber, den Unterschied zwischen Dramaturgie und Storytelling, die Rolle des Fernsehens und vieles mehr.



Thomas Schadt ist Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg (Regiefach Dokumentarfilm) und seit 2005 auch der Direktor der Akademie. Er arbeitet seit 1983 als freier Dokumentarfilmer Produzent, Kameramann und Autor. Mit über 50 Filmen gehört er zu den bedeutendsten Regisseuren und Dokumentaristen Deutschlands.





Realismus kann man in vielen Ausdrucksformen transportieren

Thomas Schadt über den Dokumentarfilm im Wandel : schadt


Herr Schadt, Ihr Buch "Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms" erschien erstmals in 2002 und ist nun in einer 4. Ausgabe verfügbar.



Ja, es hat mich sehr gefreut, daß der UVK Verlag eine vierte Auflage macht. Das Buch ist ja seit fünfzehn Jahren auf dem Markt – ich habe es nun komplett entstaubt und für die Gegenwart aktualisiert.



In den 15 Jahren hat sich einiges verändert, sowohl technisch als auch in der Medienlandschaft. Was würden Sie sagen sind die wichtigsten Veränderungen, die die Arbeit von Dokumentarfilmern tatsächlich verändert haben?



Eine komplexe Frage. Ein positiver Aspekt wäre sicherlich, daß es technische Möglichkeiten gibt, hochwertig zu Arbeiten, die preiswerter geworden sind. Die Entwicklung der Kameras spielt ja dem dokumentarischen Arbeiten in die Hände durch Aufnahmemöglichkeiten bis hin zum Handy, mittlerweile mit einer Qualität, die dafür absolut ausreichend geeignet ist.



Auch gibt es im Internet eine ganze Reihe neuer Ausdrucksformate, die vor 15 Jahren überhaupt noch nicht zur Debatte standen, also neue Möglichkeiten, in kürzeren Formaten dokumentarisch zu arbeiten. Gleichwohl ist natürlich die klassische oder traditionelle Situation in Deutschland, daß der Dokumentarfilm immer ans Fernsehen gebunden ist und auch an Gelder, die vom Fernsehen kommen, schwieriger geworden. Die Budgets in den Kulturredaktionen allgemein sind rückläufig. Ich weiß es ja vom SWR, wie dort mit Budgets umgegangen wird. Und da die Budgets für Kultur oder Dokumentarisches – der Dokumentarfilm ist ja eh immer irgendwo mit angedockt – gering sind, bieten sie, wenn sie noch geringer werden, weniger Möglichkeiten als vielleicht im Fiktionalen.



Der Dokumentarfilm tut sich definitiv im Fernsehen nicht leichter als vor 15 Jahren, eher schwerer. Und zwar eher in der Breite, vielleicht nicht in den Spitzen – wenn Andres Veiel einen Film über Beuys macht, dann hängen da auch Sendergelder mit drin, es ist also mehr oder weniger eine Senderproduktion. Aber das sind Ausreißer nach oben -- in der Breite ist es auch für unsere Talente hier in Ludwigsburg wahnsinnig schwer, Fuß zu fassen in den Sendern. Da tun sich fiktionale Regisseure leichter, was zur Folge hat, daß die Studenten, die hier Dokumentarfilm studieren, eher zum Fiktionalen neigen und da sehr gute Ergebnisse erzielen. Also diese Festlegungen brechen dann stückweise auf.



Damit meinen Sie jetzt Nachinszenierungen, fiktionale Aufarbeitungen, oder...?



Ganz gleich – wir haben ja bei uns hier in Ludwigsburg genug Beispiele von Leuten, die Dokumentarfilm studiert haben, die hochinteressante Spielfilme machen. Allen voran Anne Zohra Berrached mit "24 Wochen", das wäre das klassische Beispiel, aber es gibt auch noch andere. Sie spüren schon in der Ausbildung, daß ihre Berufsaussichten als klassische Dokumentarfilmer nicht so rosig sind und suchen dann andere Wege.





Sie sprechen ja im Buch von einem Genre in Auflösung, da es mittlerweile so viele verschiedene Formate gibt, die alle den Anspruch erheben, irgendwie ein Bild der Realität wiederzugeben.



Ja -- ich wurde ja immer als Dokumentarfilmer bezeichnet, aber habe irgendwann gesagt, eigentlich bin ich Dokumentarist, um zu sagen, daß natürlich das Abbilden von Realismus nicht dem Dokumentarfilm vorbehalten ist. Sondern Realismus kann man in vielen Ausdrucksformen transportieren – es gibt hochinteressantes Dokumentartheater, man kann fotografieren, ein Buch schreiben, oder das in einen Spielfilm transportieren; es gibt mittlerweile Spielfilme, die realistischer sind als Dokumentarfilme.



Da diese traditionellen, gefühlten Grenzen einfach nicht mehr da sind, heißt das natürlich auch, daß sich das Genre neu bestimmen muß. Das meine ich mit Auflösen - es löst sich ja nicht auf, das dokumentarische Arbeiten, das gibt es ja nach wie vor in seinen Ausprägungen, aber es wird zum Teil anders verwendet. Nehmen wir noch einmal Anne Zohra Berrached als Beispiel – sie arbeitet mit Schauspielern, dreht eine fiktionale Story, die aber sehr am Realismus orientiert ist, arbeitet aber auch mit realen Protagonisten, die sich selber spielen. Eine solche Mischform gab es meiner Meinung nach so bisher nicht. Die Studenten erfinden einfach neue Möglichkeiten, dokumentarische Arbeiten in andere Zusammenhänge zu stellen. Und das ist spannend. Ich sehe da eher den Weg nach vorne, weil dieses Gejammere darüber, daß früher alles besser war, das ist schrecklich. Es entstehen neue Möglichkeiten, während andere Möglichkeiten geringer werden. Es ist einfach ein Wandel.



Thomas Schadt über den Dokumentarfilm im Wandel : 24wochen



Leserkommentare // Neueste
handiro  //  16:59 am 23.4.2017
Eine sehr gute Kritik auf heise. Hier noch ein lesenswerter Artikel zum Thema Journalismus: https://www.heise.de/tp/features/Bleibe ... 79301.html
stepanek  //  13:57 am 23.4.2017
Hier eine eher kritische Einschätzung zur "Nervösen Republik": Der ARD-Film "Nervöse Republik" ist Symptom des Problems https://www.heise.de/tp/features/Wie-ne ... 91132...weiterlesen
mash_gh4  //  13:33 am 23.4.2017
der noam chomsky hat diesen punkt unlängst in einem interview ein klein wenig anders kommentiert (siehe letzter abschnitt in der textfassung): http://orf...weiterlesen
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