Ohne Krise gibt es keine Kreativität
Was würden Sie sagen ist der Unterschied zwischen Dramaturgie und Storytelling? Letzteres ist ein Modewort zur Zeit, aber bei Ihnen geht es um die Dramaturgie.
Jede Form von Storytelling braucht eine Dramaturgie, welche auch immer. Es gibt ja nicht nur diese klassischen Formen von Dramaturgie, die ich in jedem Buch über Drehbuchschreiben nachlesen kann, also Heldenreise, drei Akte, fünf Akte, sondern es gibt sehr viel mehr Formen von Dramaturgie. Dramaturgie ist ein in sich schlüssig aufgestellter Mikrokosmos, der für diesen einen Film ganz klar eine Strategie hat, wie er mit seiner Erzählform umgeht. Das kann unter Umständen non-narrativ sein, oder nicht-linear. Es können zwei Minuten sein oder fünf oder drei Stunden. Im Kino ist es etwas anderes als im Fernsehen.
Dramaturgie heißt für mich nichts anderes, als daß jede Art von einer erzählten Geschichte eine Form braucht, damit sie ihr Publikum findet. Das ist Dramaturgie.
Mir kommt es so vor, als gäbe es eine Inflation des Pseudo-Erzählens – überall kommt sogenanntes Storytelling zum Einsatz, im Firmenportrait, bei der Werbung, weil man erkannt hat, daß die Botschaften dann viel besser hängen bleiben.
Das ist eine Modewelle. Hier heißt Storytelling nichts anderes als eine Form, eine Geschichte zu erzählen. Jeder schreit im Moment danach, daß es eine Story oder Figuren braucht, um irgendwas emotional zu transportieren. Das ist ja beispielsweise in der Werbung ein ganz großes Thema. So catcht man die Leute am schnellsten. Das heißt aber nicht, daß es nicht noch andere Formen von Dramaturgien gibt, die genau so spannend sind oder spannender, aber für ein dafür aufnahmefähiges Publikum.
Wenn ich heute etwas erzähle, egal was es ist, muß ich mir überlegen, wer mein Adressat ist. Da hat die Werbung ganz andere Aufgaben als ein geförderter Arthouse-Film, oder ein Film auf Sat1, der Werbeeinnahmen generieren muß. Da unterliegt ja jeder ganz anderen Zwängen. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Dramaturgie. Wenn die Leute extra ins Kino gehen und 15 Euro dafür bezahlen, habe ich mehr Zeit, weil ich kann davon ausgehen, daß sie nicht nach zwei Minuten wieder aus dem Kino gehen. Aber im Fernsehen ist das anders, dort schalten sie halt nach drei Minuten in ein anderes Programm. Das ist eine andere Aufgabenstellung. Für jede Ausdrucksform, für jedes Medium, das wir zur Verfügung haben, brauchen wir andere dramaturgische Überlegungen.
Im Fernsehen scheint es als könnte man keine Geschichte erzählen, ohne alles auf einen Protagonisten hin zu bürsten.
Die Not ist dort, ich habe keine Zeit, also muß ich ganz schnell jemanden anbieten, mit dem man sich identifizieren kann. Es ist der Versuch eines Patentrezepts, um darüber dann Informationen zu transportieren. Das kann funktionieren, aber muß nicht unbedingt funktionieren, und es schließt nicht aus, daß es nicht auch andere Formen gibt. Um noch einmal auf die Frage zurückzukommen, was ist Storytelling und was ist Dramaturgie: Storytelling ist im Moment eine bestimmte Form von Dramaturgie, die möglichst schnell dem Zuschauer einen Zugang zum Thema verschaffen soll, aber es gibt auch andere Möglichkeiten.
Apropos Fernsehen, Sie plädieren im Buch ja für eine differenzierte Sicht auf die Rolle des Fernsehens: es ist der größte Auftraggeber und gleichzeitig der größte Verhinderer.
Es ist nach wie vor so, daß der Dokumentarfilm im Fernsehen überall da eine Chance hat, wo die richtigen Leute sitzen , also die Leute, die sich für das Genre interessieren. Die gibt es natürlich immer noch -- die wandern gelegentlich, aber es gibt Adressen, die sind seit Jahrzehnten gut, zB "Das kleine Fernsehspiel", oder "Junger Dokumentarfilm" beim SWR. Es braucht immer Leute, die die Qualitäten des dokumentarischen Arbeitens erkennen und bereit sind, das auf ihre formatierten Programmschienen einzulassen. Es hing immer schon und wird weiterhin an Personen hängen, weil der Dokumentarfilm, anders als die Unterhaltung oder der Sport, nicht per se irgendwo verortet ist.
Was schade ist, wir haben immerhin ein öffentlich-rechtliches Fernsehen, da sollte es einen solchen Andockpunkt geben.
Ja, aber man hat das Gefühl, das ist so eine Liebhaberei von Fans, die viel schaffen innerhalb des Fernsehens, aber ohne diesen persönlichen Einsatz erscheint es mir oft so, daß der Dokumentarfilm keinen sicheren Grund hat im Fernsehen. Es hängt tatsächlich an Redakteuren und Redakteurinnen, und vielleicht an einer Hierarchieebene darüber, denn es ist immer gut, wenn ein Fernsehdirektor sagt, er will auch Dokumentarfilme sehen. Aber es hängt am Ende an der Einsatzbereitschaft und dem Willen von einzelnen Redakteuren.
Mit dem Crowdfunding ist es noch nicht so weit, daß man das ausgleichen könnte?
Nun, das probieren die Studenten ja hier auch, und man soll nichts unversucht lassen, aber die Möglichkeit, darüber einen Film zu finanzieren im Dokumentarischen ist nicht so wahnsinnig hoch. Da wäre dann vielleicht ein kleineres Budget beim Fernsehen eine bessere Basis.
Und sucht man sich einen Sponsor, ist man nicht mehr unabhängig.
Dann ist man nicht mehr frei – es kann gut gehen, wenn man einen findet, der sich nicht einmischt, aber beim Sponsoring, und das kenne ich von meinen Studenten, da ist immer die Gefahr, daß die mitreden. Das hat immer alles sein Für und Wider. Daß die Studenten mehr versuchen als über das Fernsehen oder die Förderung zu gehen, ist verständlich, und hat auch etwas Positives, das setzt kreative Kräfte frei. Jede Not setzt Kreativität frei, wenn die Beteiligten dazu bereit sind.
Krise als Chance?
Ja, das ist ein blöder Spruch, aber da ist was dran. Ohne Krise gibt es keine Kreativität... Konfliktfreie Kreativität, davon habe ich zumindest noch nie gehört. Ich bin daher auch nicht pessimistisch. Das habe ich von meinem alten Lehrer Klaus Wildenhahn, der schon vor 20 Jahren gesagt hat: das Dokumentarische durchläuft Wellen, aber niemand wird es abschafften. Es wird sich verändern und immer wieder in neuen und anderen Formen zum Vorschein kommen, solange es Leute gibt, die diese Form der Arbeit lieben und machen wollen. Das muß man pflegen, und wir sind angehalten, das an die Jüngeren weiterzugeben, und die müssen den Staffel dann auch irgendwann wieder weitergeben.
Sie haben mit Ihrem Buch auf jeden Fall eine schöne Hilfestellung am Start… Vielen Dank Herr Schadt, daß Sie sich Zeit genommen haben für das Gespräch.
Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms ist im UVK Verlag erschienen; die 4. Auflage kostet 34,99 Euro -- unsere Rezension (zur 3. Auflage)