"Mit dem Erscheinen von digitalem Video und der digitalen Revolution habe ich das Gefühl, das eine neue weltweite Bewegung eingesetzt hat. Sie ist genauso bedeutend wie die Erfindung des Films in Frankreich vor 100 Jahren. Sie wird auf jeden Fall die Normen und die Grammatik der etablierten 35mm Filmproduktion in Frage stellen. DV stellt Fragen an die Filmkritik, die Produzenten, die Festivalleitungen und an das Publikum. Was ist DV? Können wir unsere vertrauten 35mm Standards heranziehen, um DV-Arbeiten adequat zu beurteilen? Wenn wir das tun, beschneiden wir DV und degradieren es zu einer billigen 16 oder 35mm Alternative, anstatt seine einzigartigen Tugenden im kreativen Filmprozess zu nutzen. Dies würde DV in eine tödliche Sackgasse führen, denn ganz gleich wie gut die Filmauflösung beu DV ist, sie hält keinen Vergleich zu 35mm stand. Aber eine geringe Auflösung ist ganz und gar nicht der Fehler von DV, Auflösung ist lediglich ein Wert von vielen bei der Beurteilung von kreativer Arbeit." (Andrew Cheng)
Unabhängig, direkt und billig - der neue chinesische Film und DV
Das sind die Schlüsselbegriffe, die den neuen jungen chinesischen Film, der diesjährige Länderschwerpunkt des internationalen Forums des Jungen Films, "Elektrische Schatten", definieren. Das Format Digitales Video (DV) schafft die Voraussetzung für die "digitale Revolution" des chinesischen Films: es verkörpert die Eigenschaften der neuen Welle ebenso, wie die kleinen digitalen Camcorder mit den Filmemachern eine Einheit bilden, den Regisseur mit dem Kameramann verschmelzen lassen und so den Apparat der etablierten 35mm Produktion gezielt auf seinen Ursprung zurückführen: den Mann mit der Kamera.
"Ich konnte die Kamera aufgrund ihrer geringen Größe ständig dabei haben - egal wo ich mich gerade mit den Schauspielern aufhielt und sie konnten sich an die Kamera gewöhnen. über die Zeit wurden wir Freunde, sie sahen in mir einen Bruder und die Kamera wurde ein Teil meines Körpers." (Andrew Cheng)
So lautet der Titel des programmatischen Manifests von Jia Zhangke: "Das Zeitalter des Amateurfilms wird bald wieder kommen" - es fordert die Rückkehr vom Profi-Filmer mit seinem Wissen um die Technik, den Markt und die äußeren Zwänge (und filmischen Regeln) zum unverstellten Blick des "Amateurs", der noch begeistert ist von den Dingen und davon zu erzählen weiss (und muss), von Dingen, die in keinem von einem Produzenten oder einer staatlichen Stelle abgenickten Drehbuch stehen.
"Solchen Regisseuren wird die Zukunft gehören, die voller Leidenschaft und mit einem unaufhaltsamem Drang zum Kino ihre Filme machen. Sie lassen sich nicht nach den bestehenden Konventionen der Branche beurteilen, weil ihre Filme nicht in diesen engen Rahmen passen. Ihre filmische Sprache ist innovativ und will emotional sein. Unabhängige Filmschaffende kümmern sich nicht um professionelle Konventionen, weil sie sich nur auf diese Weise einen Freiraum für ihre kreative Arbeit schaffen können. Sie lehnen traditionelle Maßstäbe ab und sind deshalb empfänglich für Ideen, Anregungen und Werte jenseits der engen Welt von Filmstudios und Filmhochschulen. Für ihre Arbeit gelten die professionellen Grenzen nicht, sie bewegen sich außerhalb der althergebrachten Gesetze und Konventionen. Sie sind aufrichtig und realitätsverbunden, weil sie ihre intellektuelle Ethik bewahren wollen." Aus: Jia Zhangke "Das Zeitalter des Amateurfilms wird bald wieder kommen"
Unabhängig, Billig
"Es ist sehr wichtig für mich, dass ich als Ein-Mann-Team arbeiten kann. Es ist billiger, ich komme mit meiner DV-Kamera überall hin und kann tatsächlich das filmen, was mich interessiert. Im Gegensatz zum Arbeiten mit einer größeren Betacam-Kamera, wo ich in Schwierigkeiten geriet, hatte ich große Freiheit beim Filmen mit DV." (Wu Weunguang)
"Auf DV zu drehen spart viel Geld in der Postproduktion. Ich habe "Shanghhai Panic" auf meinem 1000 Dollar Computer geschnitten. In einem Wort: DV erlaubt es mir "Shanghai Panic" selbst zu finishen: Eine Ein-Mann-Band." (Andrew Cheng)
Das Equipment eines "Amateurfilmers" unterscheidet sich kaum von dem eines gut ausgestatteten Touristen oder Familienfilmers: ein besserer Camcorder, ein einigermassen leistungsfähiger Computer und ein mehr oder weniger simples Schnittprogramm. So ausgerüstet kann der Dreh ohne staatliche Zuschüsse anfangen - sofort, jederzeit, überall,ohne auf fremdbestimmendes Kapital angewiesen zu sein, ohne Filmcrew und ohne tonnenschweres Equipment und vor Ort - einfach genau hingeschaut, interessiert, begleitend, betrachtend, gefilmt:
Direkt
"Ich war wirklich begeistert, dass ich mit meinen Protagonisten auf DV "spielen" konnte. 1998 begleitete ich eine Gruppe junger Farmer, die ihr Dorf verlassen hatten, um ihr Glück als Wandertheater zu finden. Mit "Spielen" meine ich, dass ich nahezu vergass Filmemacher zu sein, und zu einem normalen Teil der Gruppe wurde. Die DV-Kamera wurde zu einem Teil meines Körpers." (Wu Weunguang)
Der Camcorder ist im Gegensatz zur 35m Kamera unaufällig, er ist quasi immer als "Spielzeugkamera" getarnt, immer griffbereit und filmbereit und leicht zu verstecken - ihr Einsatz ist ebenso wie ihre Verbreitung nicht zu kontrollieren - Camcorder und Computer werden zu global verfügbaren und frei einsetzbaren Universalwerkzeugen. Alle visuelle Macht den Arbeitern und Bauern.
Und es gibt viele Geschichten zu erzählen in China, an den Bruchstellen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, Globalisierung und Geschichte, entlang der Schienen die Land und Stadt verbinden - von Menschen, die im Umbruch leben unter Veränderungen, die umwälzender sind als so manche Revolution, von einer geschwisterlosen Grosstadtgeneration, entwurzelten Wanderarbeitern, Parteibonzen, Neureichen, Lumpenproletariat, Arbeitern ohne Fabrik, Bauern ohne Land - die jungen unabhängigen chinesischen Filmer wollen diese Realitäten darstellen - sie empfinden es als ihre Pflicht, den Wandel zu begleiten, zu dokumentieren.
Filme im Forum-Programm (zum Teil mit E-mail-Interview):
Hai xian (Seafood), R: Zhu Wen
He min gong tiao wu (Dance with Farm Workers), R: Wu Weunguang
He zi (The Box), R: Ying Weiwei
Tie lu yan xian (Along the Railway) R: Dun Haibin
Tiexi qu (Tiexi District), R:Wang Bing
Wo bu yao ni guan (Leave me alone), R: Tiger Hu
Wo men hai pa (Shanghai Panic), R: Andrew Cheng Yusu
Xi wang zhi lu (Railroad of Hope), R: Ning Ying
Das Manifest:
Jia Zhanke "Das Zeitalter des Amateurfilms wird bald wieder kommen"