Ridek,
ich vermute dass man dies langsam durchdenken muss.
1. Fall:
Du hast zunächst mal recht, wenn du meinst dass beim Dreh mit der nativen ISO der Dynamikumfang des Sensors am größten ist. Nehmen wir als Beispiel die alte FS7, die hat eine native ISO von 2000. Bei dieser nativen ISO oder EI 2000 zeichnet der Sensor bei der nativen EI2000 +6 Stufen über Neutralgrau aufzeichnet, und 8 Stufen unter Neutralgrau. Jetzt machst die gezielte Überbelichtung in dieser Kamera etwa so, dass du den EI auf z.B. EI1000 reduzierst und trotzdem richtig belichtest. Dann bekommt der Sensor tatsächlich mehr Licht wie es auch das Ziel bei ETTR ist - aber die Obergrenze ist nicht mehr bei +6 sondern nur noch bei +5. Wenn das korrekt gegraded wird, denn die Überbelichtung ist ja in der Post zu korrigieren, hast weniger Rauschen aber eine Blendenstufe verloren.
Jetzt kann man richtigerweise sagen dass diese Belichtungsstrategie nicht ETTR ist. Und man könnte sagen dass hier die Reduktion des Dynamikumfangs ja dadurch erfolgt, dass ich nicht mehr bei der nativen ISO filme. Ok. Also nehmen wir an dass wir bei EI2000 bleiben und dass ich den Headroom von +6 Stufen wieder in der Kamera habe.
2. Fall:
Nimm eine sehr häufige Situation an - eine Szene mit hohen Dynamikumfang. Gerade bei einer Hochzeit wo etwa helle Außenfenster im Bild sind und das Brautpaar im Rauminneren sitzt und heiratet. Wenn so eine Szene etwa einen Dynamikumfang von 15 Stufen hat, meine Kamera jetzt bei ISO2000 ihre 14 Stufen mitbringt, dann würde ich bei ETTR mich ja an der oberen Luminanzgrenze orientieren. Ich setzt mich also an die Obergrenze, unabhängig davon ob das Brautpaar im Inneren dadurch um die 1 Stufe auch überbelichtet wird (wenn ich eine Graukarte verwenden würde, dann würde ich das schon bei der Aufnahme sehen). Bei der Aufnahme erhalte ich somit die 14 Stufen. In der Post erkenne ich das dann aber - und reduziere die Helligkeit wieder um die eine zusätzliche Stufe. Einfach weil das Brautpaar ja überbelichtet war. Dann schiebe ich von den 14 Stufen die unterste unter die Schwarzgrenze - und erhalten bleiben von den 14 wieder nur 13 Stufen.
Jetzt könnte ich das noch auffangen, indem ich nicht nur gedankenlos mit dem MasterOffset linear den Weiß- und den Schwarzpunkt verändere, sondern mit Lift etwa den Schwarzpunkt nach unten fahre. Oder mit einer Kurven oder Gammafunktion nur die Hautwerte des Brautpaars korrigierte. Geht, aber da mein Ziel sowohl eine richtige Belichtung ABER AUCH eine Rauschreduktion ist will ich meist sehr wohl den unteren Helligkeitsbereich absenken, weil ja dort das Rauschen liegt. Rauschreduktion über Absenkung des Schwarzpunktes kostet auch in dem Fall etwas an Dynamikumfang.
In der Praxis ist das Brautpaar in so einem Setting tatsächlich meist aber eher noch immer unterbelichtet, weil ich mich mit ETTR an der oberen Luminanzgrenze orientiere. Also ist eine Anhebung der Mitteltöne, wo die Hauttöne liegen, sogar noch notwendig um die richtig hin zu bekommen. Und der Schwarzpunkt gehört nach unten geschoben um das Rauschen zu reduzieren. Aber das ist "nur" das Verbiegen der Kurve.
3. Fall:
Wird es besser, wenn ich gleich richtig auf die Hauttöne des Brautpaars belichte? Natürlich ist das auch sicherer, weil ich eher brauchbare Bilder vom Brautpaar bekomme. Viele Kameras haben ja einen false color Monitor dabei, oder extra Monitore können das heute auch. Also belichte ich direkt auf die Haut des Brautpaares, und - weil ich verstanden habe dass das gut ist - mache ich nach erfolgter korrekter Justierung auf die Hauttöne des Brautpaars die Blende noch um eine Stufe auf. Diese gezielte Belichtung fahre ich in der Post wieder nach unten. Und schon wieder ist nach unten die eine Blendenstufe weg, wenn der Dynamikumfang der Szene den Dynamikumfang der Kamera voll eingenommen hat.
Wo das nicht passiert wäre nur der Fall, wo der Dynamikumfang der Szene tatsächlich geringer ist als das was die Kamera kann. Dann verliere ich eventuell gar nichts wenn ich ETTR anwende und in der Post korrigiere. Da macht ETTR den meisten Sinn.
Dass man das bei Nicht-Studiobedingungen und nicht widerholbaren Szenen wie der von dir angeführten Hochzeit eh bestenfalls nur grob hin bekommt ist eh klar. Mir erscheint der 3. Fall noch die beste Strategie, weil ich mich da wenigstens an den wichtigsten Punkt - hier dem Brautpaar - für die Belichtung anhalte.
Uff, das war lang. Weitere Details hier:
http://www.xdcam-user.com/2014/12/ultim ... y-pxw-fs7/