domain hat geschrieben:Ja so mache ich es ja auch: bei reinem Glühfadenlicht stelle ich die Kamera auf 4200 Grad Kelvin um. Das ergibt noch einen schönen Goldton.
Das meinte ich aber nicht mit "Stich nicht völlig tilgen". Das ist m.E. suboptimal. Der sogenannte kreative Weißabgleich (=mit einer falschen Weißwert-Korrektur aufzunehmen, um dem Bild einen stimmungsvollen Stich zu geben) verschiebt
alle Farben, und so sehen wir die Dinge nicht.
Zur Erklärung möchte ich ein Bild hernehmen, das Adolf von Menzel 1850-52 malte und das "Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen" genannt wird. Freilich standen die Promis (die Portraits waren wohl recht gelungen) nicht selbst Modell, Menzel konnte nur den Raum besichtigen und skizzieren, der Rest ist Phantasie. Das Licht hätte Menzel allerdings über all die Monate der Malzeit konstant halten können, denn wir sehen, dass Kerzen die einzigen Lichtquellen sind. Ein etwa 50m² großer Raum wird von etwa 20 Lux beleuchtet, deren Farbtemperatur 1500°K beträgt.
Stattdessen malte Menzel *fast* perfekte Hautfarben (die WB-Automatik der meisten Kameras trifft jedenfalls die "Fleischlinie" kaum genauer) . Es gab kein Instrument dafür, außer seine innere Farbwahrnehmungs"automatik". Menzel malte in etwa so, als habe er einen Tageslichfilm für Kunstlichtbeleuchtung verwendet. Das gibt dann auch dieses gemütliche Orange (wie relativ all dies ist, sieht man daran, dass es auch einige lumix-grüne Versionen des Bildes im Netz gibt, aber bei denen wurde das Original schlecht reproduziert). Gleichzeitig achtete er aber darauf, nicht alle Farben wie mit einem Foto-Effektfilter zu verzerren.
Eine neutrale Version, die man gekriegt haben würde, wenn man damals in Sancoussi mit 1500°K belichtet hätte, sähe so aus:
(Es kann natürlich nicht sein, dass die Kerzen weißes Licht abgeben, das ja vermutlich als weiß gedachte Notenblatt vor Carl Philipp Emanuel Bach jedoch dieselbe Farbe hat wie Friedrich seine Visage. Das liegt daran, dass der "Grauabgleich" in diesem Bild auf Hautfarbe getrimmt ist: Klickt mal mit der Pipette in das Notenblatt im Original und dreht die Hue-Toleranz ganz niedrig: Außer dem Notenblatt bleiben nur die Gesichter übrig!)
Nun ist es so, dass mit einer strohdoofen, rein technischen Digitalkamera und dem von dir beschriebenen kreativen Weißabgleich niemals ein gescheites Bild zustande gekommen wäre. Mal vom absolut grottigen Schwachlicht abgesehen, wären vielleicht noch so viele Farben übriggeblieben:
Fast ein SW-Bild.
Fazit: Meiner Meinung nach sollte man es sich zum Ziel machen, bei der Aufnahme die neutralsten Farben und die gleichmäßigste Belichtung zu erzielen (oder gleich, falls möglich, in Raw aufnehmen). Denn Postpro ist keine verächtliche Modeerscheinung, sondern hat in Wirklichkeit die längere Tradition als die All-in-camera-Methode.
Nun komme ich zu dem Stich. In ein neutrales Bild kann man nachträglich einen beliebigen Stich legen. Aus einem Bild, dessen Farbinformationen mit bloßem Auge auf eine bestimmte Wirkung hin stark beschnitten wurden, geht das nicht mehr.