cantsin hat geschrieben: ↑Di 29 Aug, 2017 18:30
DenK hat geschrieben: ↑Di 29 Aug, 2017 18:20
Wie würde denn so eine Timeline wie oben jetzt in FCPX aussehen?
AFAIK liesse sich das Material darin gar nicht so organisieren, weil im obigen Beispiel jede Kamera jeweils auf einer Spur liegt.
Die fahlblauen Clips in der Timeline sind slugs ("7"-Veteranen erkennen das sofort) - leere Clips. Er hat sie umbenannt. Sie dienen in dieser Timeline nur als Trenn- Sortier- und Benennungsbalken. Auf V16 genestete und geplünderte Abschnitte eines anderen Projektarchivs. Nur auf V1 und V2 befindet sich (X-Sprech) "die Handlung". Es handelt sich um einen Zwischenstand seines Schnitts für
Particle Fever, einer Doku über den CERN-Teilchenbeschleuniger, die man z.B. auf Netflix auf deutsch ansehen kann, auf Youtube natürlich in voller Länge auf englisch. Die Physiker selbst haben das Projekt seit den 80ern mit damaligen Video- und Schmalfilm-Kameras dokumentiert. Die (Sub-)SD-Aufnahmen in 4:3 und in den unterschiedlichsten Frameraten sind in die fertige Doku auf unterschiedliche Weise integriert, teilweise mit riesigen schwarzen Rahmen und mit nostalgischem Ruckeln und Flimmern im HD-Bild der modernen Doku-Kameracrew. Sie sind zu 90% B-roll, wie eigentlich der überwiegende Teil des Films. Wissenschaftler erörtern die Hintergründe ihres Experiments. Anstatt Talking Heads im ON sehen wir sie sehr oft ihr Fahrrad vor der gewaltigen Anlage anketten, Milch aus dem Kühlschrank holen oder auf ihre Schnürsenkel starren, überblendet von animierten Higgs-Teilchen-Grafiken. Unterlegt von einem amalgamiertem Soundtrack (buchstäblich ein Remix, denn er übernahm einen Rohschnitt von jemand anderem mit fertiger Musik und verwendete beides wie "found footage"), der bekanntlich Murchs Spezialität ist.
Murch hat oft über seine Arbeitsweise geschrieben und gesprochen. Er glaubt daran, dass Schnitt wesentlich darin besteht, vorurteilsfrei ein kreatives Chaos anzusammeln, das man nach und nach kennenlernt und dessen Zusammenhänge man im Dienst der Story freilegt. Dabei verwendet er verschiedene Techniken. Unter anderem schneidet er gerne für sich stehende Sequenzen und montiert Versatzstücke daraus an andere Stellen (ein Kommentar aus dem Film:
ein gutes Experiment versucht nicht, eine Theorie zu beweisen, sondern neue anzustoßen, ist wohl ganz im Sinne von Murchs Schnittphilosophie). Analog dazu versucht er, aus einer eigentlich geradlinigen Reportage ein durch Anreicherung von Subtext vielschichtiges und vieldeutiges Ganzes zu machen.
In X hätte er den Video- und Audioclips Rollen zuordnen können, was die Sortierung automatisiert und den Schnitt effektiver gemacht hätte. Die Timeline wäre präziser sortiert gewesen, hätte weniger vertikalen Raum beansprucht und wäre übersichtlicher. Aber Automatisierung sieht Murch kritisch, und Effizienz sollte nicht heißen, dass der Cutter faul wird. Diese Kritik an X haben auch andere kluge Leute angebracht (die magnetische Timeline fördert geradliniges Denken des Bedieners, eine Kopfsache). Murch hat sich irgendwo lobend über Premiere geäußert, offenbar hatte es ihm besonders das Pancake-Editing angetan. Was ich damit sagen will, ist, dass das Bildbeispiel nur eine völlig verrückte Methode zeigt, wie man Material
auch organisieren kann. Sie lässt sich nicht für alle und nicht in jeder Situation anwenden. Man könnte sagen, sie sei komplett ineffizient. In dem Sinne, wie ein Marmor-Bildhauer ineffizienter arbeitet als ein 3D-Laserdrucker.
Na und? Im Fernsehen wird ja auch alles wiederholt ...