Peppermintpost hat geschrieben:Und Ihn als einen der besten Filmemacher zu bezeichnen ist ein Witz.
(...)
Wer ist Fassbinder im Vergleich? Ein Nichts. Der Typ ist für mich die absolute Wurst, schlimmer gehts nimmer.
Kennt irgend jemand was von Fassbinder was sehenswert ist, oder geht es euch mit ihm genau so wie mir?
Ich akzeptiere diese Auffassung, sage aber zu dir (und der überwältigenden Mehrheit): Dir entgeht etwas, du verpasst etwas.
Der Schlüssel ist der "historische Kontext". Das klingt jetzt hochtrabend, aber ich erläutere es kurz.
Wenn du dich in die Erwartungshaltung des Publikums zur Zeit des jeweiligen Filmstarts versetzt, welche Themen damals heiß waren, über was man noch gar nicht nachdachte und wie man sich selbst in dieser Umgebung wahrnahm, und dir dann vorstellst, du säßest mit anderen (Fassbinder-Filme lasteten meist nur kleine bis mittlere Säle aus, stell dir also ein Programmkino vor) in der Vorstellung, dann wirst du zumindest teilweise zu einem anderen Urteil kommen.
Nehmen wir als Beispiel den heute noch sehr ansehbaren "Angst essen Seele auf" von 1974. Welche Filme dazu in Konkurrenz liefen, kannst du zum Beispiel
hier sehen.
Was daran auffällt:
1. Amerikanische Filme - zu dieser Zeit wenig "Großproduktionen" - kamen oft bis zu drei Jahre nach USA-Start in die deutschen Kinos. Es gab keine Raubkopierer (wie auch?). Es gab zwar Bestseller, aber auch Longseller. Kino hatte eine andere Wertigkeit.
2. Es gab eine ungeheure Bandbreite. Von
Es juckt in der Lederhose bis
Amarcord war alles vertreten. Und zwar in Bezug auf die deutschen Besucherzahlen relativ ausgewogen. Der Anteil des europäischen Kinos war wesentlich höher als heute.
3. Alle Filme, vom billigsten deutschen Sexploitation-Streifen bis zum hochdotierten europäischen Autorenfilm, definierten sich über den Inhalt, über die Brisanz oder Exklusivität der Geschichte (wobei man das, was als exklusiv und originell gilt, immer im o.g. "zeitlichen Kontext" sehen muss). Das traf auch auf amerikanische Filme zu.
4. Selbst als Trash bereits konzipierte Filme (deren subversive Kraft Tarantino besonders zu würdigen lernte) waren ein frischer Wind im Mief vorhergehender Jahrzehnte.
5. Der "Alte Deutsche Film" (die altbekannten, ihrerzeit gewinnträchtigen Rühmann-Vehikel beispielsweise) ist
nicht mehr existent. Heute sehen wir mit Schweiger/Schweighöfer-Belanglosigkeiten eine Art, äh,
Renaissance.
Als Alternative zum Kino gab es Fernsehen. Drei deutsche Programme. Sendeschluss mit Testbild "freitags und samstags"
erst um ein Uhr nachts. Die deutsche Fernsehlandschaft: wo Fuchs und Hase die Pfoten über dem Kopf zusammenschlagen! Der autoritär auftretende Tagesschau-Sprecher konnte revoltierende Studenten (häh? was'n das?) als "Chaoten" bezeichnen. In dieser spießigen Atmosphäre (die aber eine Gegenbewegung hervorbrachte) liefen Fassbinders Filme.
Schleichmichel hat geschrieben:Die hölzerne Darstellung war intendiert. Ist keine Deutung von mir, auch wenn ich es so begriffen habe (in der Simulierten Welt verhalten sich alle noch hölzerner und in der Welt von Eva ist Fred deutlich gelöster). Wurde inzwischen von den Darstellern bestätigt, dass es genau darauf ankam.
Der kleine, dicke, schwule, kokainsüchtige Fassbinder hatte gewiss seine Probleme. Mit einem hatte er frühzeitig abgeschlossen: die öffentliche Meinung zu respektieren. Die hölzernen Dialoge verstand ich immer in einem Loriot-Sinn. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Obrigkeitsgehorsam und komplette Verweigerung aufeinanderprallten, entlarvte Fassbinder Sprache und Verhalten seiner Mitmenschen als unecht, dümmlich, nachgeplappert. Und feindlich. Eine alte, traditionell erzogene Putzfrau und ein jüngerer schwarzer Gastarbeiter (oder war er Asylant?) verlieben sich, eine klare Utopie. Ihre Verständigung ist problematisch, und zumal die deutsche Alltagssprache hilft wenig. Die Umwelt reagiert, indem sie mit zunehmender Raffinesse die Beziehung zerstört.
Das war inhaltlich stark. Und seinerzeit verstand eine ziemlich breite Schicht in der Bevölkerung die Kampfansage und diskutierte darüber.
Fassbinders Filme sind für heutiges Publikum unansehbar. Das habe ich schon früher geschrieben. Es gab aber nichts Vergleichbares. In
Easy Riders, Raging Bulls (Buch über das amerikanische Kino der 60er und 70er) sagt Coppola (oder war es Scorsese? Ich weiß es im Moment nicht und bin zu faul, nachzuschlagen):
Ich traf in Cannes mit Fellini und Fassbinder zusammen. Da wusste ich, dass ich es geschafft hatte.
Und heute? Es gibt ein paar Österreicher, die den Finger in die Wunden legen. Es gibt keine relevanten deutschen Förderfilme. Mit Fassbinder begann und endete vertretbare deutsche Filmförderung. Er machte sehr viele Filme, und es waren sparsame Projekte. Er selbst schilderte, wie er versuchte, mit den kleinen Budgets hinzukommen und seinen privaten Förderern ihr Geld zurückzahlen zu können. Das gelang ihm als einem der wenigen zu der Zeit. Darum wurde er "Motor des Deutschen Films" genannt.
Vielleicht ist ein publikumsträchtiger Film, der zugleich relevante Themen aufgreift, die berühmte Quadratur des Kreises. Vielleicht. Mir fällt aber kein Grund ein, warum sich beides ausschließen sollte.