Die Stimmung in der deutschen Filmkultur fassen drei Sätze zusammen: So kann es nicht weitergehen. Aber so geht es weiter. Und es wird noch schlimmer. [...]
Die Ursprünge der staatlichen oder regionalen Filmförderung und die hybriden Produktionen für Kino und Fernsehen in den europäischen Ländern liegen am Beginn der Siebzigerjahre. [...] Die "Branche" – zu diesem Wort später mehr – musste im doppelten Sinn gerettet werden, nämlich vor dem wirtschaftlichen Ruin und vor dem moralischen Kollaps. Den siechen europäischen Filmfabriken fiel ja damals nicht mehr viel ein, als Filme zu drehen, die garantiert keine Fernsehkonkurrenz hatten – hierzulande erst ein wenig Wallace-Grusel oder Karl-May-Buntes, dann, als das nicht mehr zog, wurde unterm Dirndl gejodelt. [...]
Für die Einführung einer staatlichen Filmförderung (da es sich ja um Kultur handelte, konnte das hässliche Wort Subvention vermieden werden) gab es also einen kulturellen, einen wirtschaftlichen und schließlich einen politischen Grund. Diese Dreieinigkeit aus Kulturpädagogik, Wirtschaftsinteresse und nationaler Politik spukt bis heute auf allen Ebenen der Filmförderung. [...]
Aus dem Projekt Filmförderung wurde ein System und aus dem System schließlich eine Maschine. [...] Diese Maschine hat Zulieferer und Abnehmer, die stetig steigende Abhängigkeiten erzeugen. [...]
Der Begriff [Branche] bedeutet nichts anderes als Wirtschaftszweig, und ein solcher wird seit 1950 vom Statistischen Bundesamt klassifiziert. [...] eine reine Filmbranche jedoch gibt es im Wirtschaftsleben nicht. Sie wird gewissermaßen durch die Förderung erst behauptet oder geformt: durch Firmen, die sich um Förderwege herum bilden, aktiv werden und wieder verschwinden, durch Vertragswerke, die mehr Bewegung suggerieren, als tatsächlich transformiert wird, und durch Organisationen, die nur zur Kommunikation mit den Förderinstanzen existieren und Produktionsmittel aus verschiedenen Kanälen bündeln.
Unternehmen, die keine reale wirtschaftliche Basis haben, deren juristische Konstruktion wichtiger als die Produktivität ist oder die nur durch die eigene Belegschaft oder von außen aufrecht erhalten werden oder die ihre eigene Abwicklung verleugnen, nennt man im Wirtschaftsleben "Zombiefirmen". Spricht man von einer Filmbranche, so könnte man also ebenso von einer Zombiebranche sprechen. [...]
Die Filmförderung setzt sich nun in Ländern, Regionen und Städten fort, und hier kommt eine weitere Absurdität ins Spiel: die Bindung der Förderung an den Standort. Im Zweifelsfall lobt Kleinkleckersdorf eine Filmförderung aus, damit am Drehort Kleinkleckersdorfer Heide die örtliche Pommesbude Catering macht und der örtliche Chemiekloverleiher im Abspann erwähnt wird. [...]
Halten wir fest: Ein Wirtschaftszweig, der ökonomisch gesehen eine Zombiebranche ist, wird am Leben erhalten, und zwar nicht etwa, weil Filme so superwichtig fürs kulturelle Allgemeinwohl wären, sondern um eine "Wettbewerbsfähigkeit" zu erhalten und um die eigentlichen, wirtschaftlich "gesunden" Zweige wie Werbung und Fernsehunterhaltung mit Geld und Legitimation zu versorgen. Wettbewerb mit wem oder was? Mit anderer (europäischer) Länder Zombiebranchen? Mit den großen Filmkonkurrenten Fernsehen (und jetzt Streaming) und Hollywood (und bald China)? [...]
Kurzum: Die "Kultur", die die Wahrheitsmaschine Filmförderung braucht, frisst den wirtschaftlichen Nutzen und die Wirtschaftlichkeit, die eigentlich verlangt wird, frisst die kulturellen Möglichkeiten. Was dabei herauskommt, ist ein Film, der selbst nicht recht weiß, wozu er eigentlich da ist. Er kann weder mutige Kunst noch ehrliche Unterhaltung sein. [...]
Jemand, der im Film zu Hause ist, kann ein Drehbuch in ein, zwei Monaten schreiben. Förderanträge, Absichtserklärungen, Fragebögen, Projektbeschreibungen verlangen ein Vielfaches an Papier, Zeit und Energie. [...] Es ist keine Seltenheit, dass ein Drehbuch sechs, sieben Jahre in der Fördermaschine des deutschen Films zubringt. Ohne die eigentliche Arbeit dieser Maschine noch zu betrachten, ist schon hier klar, was mit einer Filmidee geschehen ist: Ungeheure Energie wurde verschwendet, das Prozedere enorm verlangsamt und kein Film kann mehr auf der Höhe seiner Zeit sein. Damit ist sichergestellt, dass deutsche Filme zwar im Großen und Ganzen politisch korrekt, aber niemals politisch aktuell sein können. [...]
Durch diese komplizierten Entscheidungsprozesse mittels Gremien und Jurys wird der geheime Sinn der cineastischen Wahrheitsmaschine schon weitgehend erreicht: Es entstehen Filme, die kulturellen und politischen Standards entsprechen. Über diese Standards wiederum entscheiden die "Maschinisten", die Gremien, die Jurys, die Redakteure, von deren Arbeit wir mehr ahnen als wissen, denn sie bleiben gewissermaßen in ihrer Maschine verborgen. [...] Ein Whistleblowing kann jedenfalls in diesem System nicht erwartet werden. Es wäre, selbst wenn man keine verschwörungsfantastischen Bösewichte imaginiert, beruflicher Selbstmord. Die Zombiebranche hat eine TINA-Maschine in Gang gesetzt: There is no alternative. [...]
Schlimmer geht immer. Neben der allmählich sichtbaren Bewegung nach rechts ist auch die Privatisierung der Maschine weit vorangeschritten. [...] Diese Privatisierung verwundert nicht, denn woran es der Zombiebranche am wenigsten fehlt, ist Geld. Die Filmförderung durch die Bundesländer bildet heute den größten Anteil an der Filmförderung in Deutschland, und damit kommt man alles in allem auf jährlich ungefähr 450 Millionen Euro an Förderungssummen (die diesbezüglichen Schätzungen sind wie gut gelaunte Besucher von Selbstfeiern des deutschen Films: schwankend). Gewiss, damit könnte man gerade mal zwei Superheldenfilme Marke Hollywood drehen, aber damit wären auch 200 neue Rainer Werner Fassbinders und 2.000 neue Christoph Schlingensiefs möglich. Theoretisch. [...]
Was es aber unter diesen Bedingungen einfach nicht geben kann, ist eine deutsche Filmkultur.
https://www.zeit.de/kultur/film/2020-09 ... ettansicht