Ich glaube nicht, dass es dasselbe in Grün ist. Das Wollen ist ein anderes, die Herangehensweise ebenso. Im Endeffekt werden völlig verschiedene Filme entstehen. Als Dokumentarfilmer erforsche ich die Welt beim Machen und nicht beim Planen. Ich lasse mich auf Menschen ein, deren Geschichte mich berührt oder fasziniert. Und zwar instinktiv, ohne zu wissen wo die Reise hinführt, folge ihnen ein Stück des Weges und halte fest, was ihnen begegnet - und hoffe auf mein filmisches Glück. Bislang hat es sich meist gelohnt.Jalue hat geschrieben: ↑Di 19 Mär, 2019 19:45
Merkst du was? Die Vorgehensweise ist dieselbe in Grün, nun dass bei dir das Ei (Protagonist) eben vor der Henne (Thema, Dramaturgie) kommt. Brauchen wirst du ab einem bestimmten Punkt beides, außer vielleicht bei "Bahnfahr-Dokus" als Testbildersatz nach Sendeschluss. :-)
Konkretes Beispiel aus meinem Bekanntenkreis: Ein Freund von mir dreht derzeit dokumentarisch in Russland, weil er dort während eines privaten Besuchs einen interessanten Menschen getroffen hat, der ein sehr ausgefallenes Hobby-Projekt verfolgt, was auch die Behörden auf den Plan bringt. Die Entscheidung zu drehen (alleine!) erfolgte spontan und verursachte zunächst lediglich Reisekosten für drei Wochen. Wie sich während des Drehens unerwartet zeigte, leidet dieser Protagonist in ganz besonderer Weise unter der Diktatur - Gehaltskürzung, Mobbing im Job bis hin zu offener Einschüchterung. Das war vor Drehbeginn nicht absehbar. Aus diesem Seitenereignissen leitete mein Kumpel nun im Nachhinein das Pitching-Thema ab und konnte schon einen Weltvertrieb an Land ziehen. Beim Drehen war der Pitch überhaupt nicht klar, darum ist das Material auch nicht thematisch verbogen. Er blieb dokumentarisch weiter auf dem Protagonisten, drehte nur, was passierte, sammelte diese Seitenereignisse zwar wahrheitsgemäss mit ein, erzählte im Hauptstrang aber etwas ganz anderes. Und dieses "en passant" Erzählen von Zeitgeschichte macht nun die besondere Qualität des Materials aus, was wohl eine der Hauptunterschiede zur thematisch geplanten "Doku" sein dürfte. Im Grunde ist das Material jetzt abgedreht, da das Projekt des Protagonisten eine besondere, wiederum unerwartete Wendung mit Herz erfahren hat und damit ein dramaturgischer Endpunkt gesetzt ist - Dokfilmerglück. Seit Anfang Februar steht der Trailer und ein Rohschnitt macht derzeit die Runde. Ob weitergedreht wird oder werden soll ist noch offen.
Wie geht so ein Indy-Projekt nun weiter? Der Weltvertrieb hat auf der Basis des Materials und der Vita bereits zugesagt. Mein Kumpel muß damit jetzt ganz klar auf die Festivals, um den Film breiter vorzustellen. Das Geld für den Cutter könnte er zur Not über Crowdfunding reinholen, aber er bekommt das nach derzeitigem Stand wohl alles klassisch über den französischen Weltvertrieb finanziert, der dafür Förderung beantragt hat. Und weil meinem Kumpel dank spontaner Drehentscheidung niemand reingeredet hat, bleibt das Material originell genug, um aus der Masse herauszustechen... alles offen, aber spannend.
So und jetzt meine persönliche Rohertragsprognose: Bei mittlerem Festivallauf wird der Weltvertrieb Verkäufe landen, welche meinem Kumpel netto irgendwas zwischen 15K und 50K einbringen werden. Dazu Preisgelder und Ticketbeteiligungen, die nach den ersten Preisen mit den Festivals ausghandelt werden können. Und natürlich Einladungen auf Festivals mit Anreise und Unterbringung. Ich finde das nicht schlecht.
Zum Vergleich: Was zahlt Arte nochmal für einen Auftrags-Dreissigminüter? Und was bleibt da beim Regisseur hängen? Meine letzte Info war 10-30K teilvariabel, je nach Produktionsfirma, Slot und Redaktion für den abgelieferten Film. Um den Auftrag zu erhalten, muß recherchiert, kalkuliert und geplant werden, Wartemonate bis zur Senderentscheidung wollen überbrückt sein. Und wenn alles bereitsteht, beginnt der Stress damit, daß das Thema womöglich schon verflogen ist, die Protagonisten umgezogen sind oder überhaupt irgendwie alles nicht mehr zusammenpasst und neu recherchiert werden muß. Trotzdem bleibt man dem Buch verpflichtet, die Produzenten drängeln und der Sender ist die ganze Zeit mit an Bord. Die Wahrheit interessiert da gar nicht mehr so sehr, weil die Verpflichtungen ganz andere sind. Fix it in the post - der Sprecher wirds schon richten. Und wie lange bleibt so ein "Doku"-Film bzw. solch eine Reportage im kollektiven Gedächtnis? Zwei Ausstrahlungen lang? Gibts dafür überhaupt noch irgendwo eine Pressenotiz? Muß jeder für sich selbst entscheiden, ob er das mag.
Im Übrigen denke ich aber, dass Du Recht hast und der reine Lebensunterhalt besser mit Industriefilm, Berufsschulunterricht oder mit filmfernen Jobs erwirtschaftet werden kann, allein schon um nicht in Abhängigkeit zu geraten und auch geistige Abwechslung zu haben. Es geht sogar monoton: Ich kenne einen Drehbuchautor, der in der Schweiz als Maler arbeitet. Nicht als Kunstmaler, sondern als Wohnungsmaler. Der simple Job wirft ziemlich was ab (noch nicht mal unversteuert)) und er betont, dass er dabei den Kopf frei bekommt und am Besten über seine Bücher nachdenken kann - mit dem Endziel Netflix.)) Finanziell befreit kann man sich auch entspannter auf klassische Dokfilme einlassen - falls jemandem der dokumentarische Drang nach Erkenntnis und Wahrheit dies wert ist.)