Echo of War und Refusniks: Dokumente des Widerstands
Eine Eintrittskarte zu einem Film des Internationalen Forums ist zumeist auch eine Fahrkarte. Die Filme führen den Zuschauer in ferne Länder, oder in vergangene Zeiten. Oft auch beides.
Unvergessen wird beispielsweise die beeindruckende Dokumentation "Tiexi District" von Wang Bing bleiben, die in 300 Minuten den Niedergang des Shengyang-Stahlwerks in China zeigt (Forumprogramm 2002). Auch dieses Jahr stehen viele Orte auf dem Reiseplan, wie das nostalgisch umsungene Odessa, das, wie der wunderschöne Film "Odessa, Odessa" zeigt, für immer in der Erinnerung der Auswanderer lebendig bleibt, obwohl es heute wie ein verlassenes Städtchen wirkt. Oder Arlit, in der Sahara gelegen, das ein zweites Paris werden sollte, doch wo es heute außer Sand und unrentable aber gefährliche Uranminen kaum noch etwas gibt, nicht mal Getränke in der Bar (Arlit, deuxième Paris).
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Andere Stationen sind nicht schön oder faszinierend, im Gegenteil. Tschetschenien zum Beispiel. Wie dort eine Gruppe mutiger Frauen das tägliche Leid mit Verschleppungen, Folter und Mord dokumentiert, erzählt Eric Bergkraut in seinem auf DV gedrehten Film "Coca - The Dove from Chechnya". Seit Anfang des Krieges 1994 leistet Zainap Gaschajewa, Coca (Taube) genannt, Kriegsberichterstattung der anderen Art. Mit Videokameras zeichnen sie und ihre Kolleginnen unter Einsatz ihrer Leben Augenzeugenberichte auf, filmen verstümmelte Leichen, Massengräber, Tatorte. „Echo of War“ nennt sich ihre Organisation. Allerdings sind die Bänder nirgends zu sehen. Sie werden in Garderoben versteckt, hinter Sofas, bis es gelingt, einige davon ins Ausland zu befördern, als Beweis für die schweren Menschenrechtsverletzungen der russischen Armee an der tschetschenischen Zivilbevölkerung.
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Anfangs sei es noch sehr schwer gewesen, die Nahaufnahmen von Leichen zu machen, berichtet eine der älteren Frauen an der Seite Gaschajewa, doch man gewöhnt sich. Coca selbst erzählt, wie sie einmal durch den Sucher der Kamera sah, wie ein Tot-Geglaubter doch noch atmete und sich in Schmerzen wand. Helfen konnte ihm niemand mehr. Voller Verzweiflung filmt Coca weiter – Bergkraut, der sein eigenes Material mit den Aufnahmen der Frauen gemischt hat, verschont die Zuschauer nicht. Auch diese Aufnahmen bekommen wir zu sehen. Und doch vermittelt der Film auch Hoffnung, nicht nur, weil er auch zeigt, wie es der Organisation gelingt, mit Spenden aus dem Ausland verletzten Kindern zu helfen. Diese Frauen strahlen so viel Entschlossenheit aus, etwas zu verändern, daß einem trotz allem warm um das Herz wird.
Als Berlinale-Besucher muß man nur die Straße zu kreuzen, den konkurrierenden Kinokomplex betreten, und schon ist man in Israel, und im nächsten Konflikt. Auch hier geht es um Widerstand und Zivielcourage, allerdings aus einer entgegengesetzten Perspektive. 2002 unterzeichneten etwa 50 israelischen Kampfsoldaten – viele von ihnen Offiziere in Spezialeinheiten –, ein Schreiben, das als „Combatants' Letter“ in die Geschichte einging. Darin erklärten die Soldaten, die jahrelang loyalen Reservewehrdienst ausgeübt hatten, von nun an ihren einmal im Jahr angesetzten dreißigtägigen Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, da dieser nicht Israels Sicherheit diene, sondern eher das Gegenteil bewirke.
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"The Objection Front" (Ratziki lihiyot gibor), ein nüchtern gehaltener Dokumentarfilm mit viel "Taking Heads", ebenfalls eine DV-Produktion, läßt einige dieser jungen Männer zu Wort kommen. Einer von ihnen erzählt, wie er Wache stehen mußte, als Secret Service-Agenten einen 14-jährigen Jungen beinahe zu Tode quälten. Andere haben ähnliche Erfahrungen gemacht, und sich daher dazu durchgerungen, aus Gewissensgründen ihren Dienst in den Siedlergebieten zu verweigern. Keine leichte Entscheidung, in einem Land, in dem ein Kampfpilot größeres Ansehen genießt als ein Arzt. Entsprechend schockiert war der überwiegende Teil der israelischen Gesellschaft über die sogenannten Refusniks, und bestrafte sie mit Verachtung und Gefängnis. Trotzdem haben mittlerweile 635 Soldaten den Brief unterschrieben.
Selbst geht man nach der eintägigen, aufwühlenden Weltreise wohlbehütet nach hause, und hofft, auf der nächsten Berlinale noch mal nach Tschetschenien fahren zu dürfen, um Interviews mit russischen Soldaten zu sehen, die dem Beispiel ihrer israelischen Kollegen folgen. /HE
Coca - The Dove from Chechnya / R: Eric Bergkraut
Land: Schweiz 2005 / Vorführformat: 35mm, Farbe
Länge: 86 Minuten / Sprachen: Russisch, Tschetschenisch, Deutsch, Englisch
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On the Objection Front / Ratziti lihiyot gibor / R: Shiri Tsur
Land: Israel 2004 / Drehformat: DVCAM / Vorführformat: Digi Beta, Farbe
Länge: 63 Minuten / Sprache: Hebräisch
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kurzes Interview zum Film
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