k_munic hat geschrieben:
Ich lass Dir ja gern Deine Meinung, aber das hat mit Lehrbuch überhaupt nix zu tun! Wahrnehmungs-Psychologie hat schon der Hamster oder irgend'n Krustentier unter Wasser.
Du verwechselst wissenschaftliche Erkenntnisse mit ewiger Wahrheit. Alle Erkenntnisse der "Wahrnehmung-Psychologie" gelten nur b. a. w. - also bis neue Erkenntnisse auftauchen, die alles bisher anerkannte über den Haufen werfen. Kein ernsthafter Wissenschaftler vertritt seine Thesen so ernst und fest, wie du das tust. Er behält immer einen Restzweifel. Jeder Wissenschaftler, der was wert ist, weiß, dass er kein vollständiges Wissen besitzt - also geht es nicht um Wahrheit, sondern um momentan verbreitetes (von der Mehrheit der bedeutenden Wissenschaftler vertretenes) Verständnis.
Und weder Hamster noch Krustentier, noch Raubaffe haben „Wahrnehmungs-Psychologie“. Sie haben ihre Wahrnehmung und ihre Psyche, aber scheren sich einen Dreck um die menschliche „Logie“ dazu. Sich sind einfach nicht verpflichtet, den Erkenntnissen der Wissenschaftler Folge zu leisten. Und Menschen genausowenig.
Diese Anekdote (wissenschaftlicher Stand von ca. 1930) werdet ihr vielleicht schon kennen:
„Die Hummel hat 0,7 cm² Flügelfläche und wiegt 1,2 Gramm. Nach den Gesetzen der Aerodynamik ist es unmöglich, bei diesem Verhältnis zu fliegen. Da die Hummel die Gesetze der Aerodynamik nicht kennt, fliegt sie trotzdem.“
k_munic hat geschrieben:
Menschen sind Raubaffen. [...]
Du kannst dich gerne auf einen Raubaffen reduzieren, aber lass mich und andere Menschen da bitte raus. Ich bin ein Mensch und auf jeden Fall anders, als irgendein Tier. Deine Aussage ist nicht im geringsten aufschlußreicher, als die Aussage: "Menschen sind zu 70% aus Wasser!" Deswegen muss das, was für Wasser gilt, noch lange nicht in allem zu 70% für mich gelten. Und auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Raubaffen halten sich in Grenzen und gelten auch nur b. a. w..
Menschen sind Menschen. Und selbst unter Menschen gibt es enorme Abweichungen in der Wahrnehmung, da jeder Mensch seine eigene Geschichte, Psyche, Interessen usw. und damit auch seine eigene Wahrnehmung mitbringt.
Kuleschow-Effekt:
Der Kuleschow-Effekt ist auch nicht verbindlich. Ich muss mich nicht an dieses "Gesetz" halten. Ich kann meine Wahrnehmung auch sehr wohl so ausrichten, dass ich nicht versuche, zwischen einer Reihe von Bildern Zusammenhänge herzustellen. Der Kuleschow-Effekt zieht nur bei Leuten, die bei Filmen immer eine Geschichte erwarten. Mittlerweile weiß man, dass Filme nicht immer nur Geschichten erzählen. Erst recht nicht im Zeitalter von Musikvideos und Web 2.0, wo jeder Filmemacher ist und sich einen Dreck um Konventionen oder gar den "höheren moralischen Auftrag des Filmemachers" schert. "Richtig" ist dann das, was Zuschauer anzieht und begeistert. Niveau nicht zwingend notwendig.
Es funktioniert aber auch andersherum: wenn jemand den Mund aufmacht oder in die Tasten haut, erwarten wir in der Regel eine halbwegs zusammenhängende Aussage... (sofern wir als Hörer oder Leser kooperationsbereit sind).
Aber zieh dir mal mehrere Folgen "Sinnlos im Weltraum" rein und versuche dann eine originale Enterprise-Folge anzusehen. Du wirst merken, dass du nach mehreren Stunden SIW immer noch davon ausgehst, dass die Enterprise-Crew sinnlosen Schwachsinn redet - und suchst gar nicht nach der zusammenhängenden Story. Also eine Art Umkehrung des Kuleschow-Effekts (bei Sprache). Warum soll das nicht auch für Filmsprache gelten?
Ja, ich gebe zu, es gibt eine Grammatik in der Filmsprache. Aber wer benutzt im wirklichen Leben immer die perfekte Grammatik? Müssen alle Filmcharaktere gestelztes Hochdeutsch sprechen und ja keine Fehler machen? Kann man sich damit als Zuschauer identifizieren? Wann hat man sowas das letzte mal im Kino gesehen? Kann es sein, dass es dafür einen guten Grund gibt? Kann es sein, das etwas fehlerhaftes uns näher ist als etwas perfektes und dass Perfektion Misstrauen erweckt und künstlich und steril wirkt? Nicht lebendig?
Ein Zuschauer, der vermeintlich fehlerhafte Bilderfolgen aufnimmt, kann daraus sehr wohl eine Botschaft herausziehen - wenn er will. Wenn ich die Geschichte interessant finde, bin ich gerne bereit, Film-Fehler auszugleichen. „Liebe deckt alle Fehler zu.“ Finde ich die Geschichte aber uninteressant, suche ich geradezu nach jedem Fehler, um das fehlende Interesse dem "stümperhaften" Erzähler anzulasten. Was für Menschen machen sich eine Aufgabe daraus, penetrant nach „Filmfehlern“ zu suchen? Nur Leute, die keine Filme mögen und nach Gründen suchen, die Illusion zu zerstören. Wer sucht, der findet auch - ganz sicher.
Und wenn eine Bildfolge nicht als perfekt wahrgenommen wird, wirkt diese Erfahrung wahrscheinlich realistischer und emotional intensiver. Weil unsere Wahrnehmung ebenfalls voller Fehler ist. Und eher einem wilden Experimantalfilm gleicht als einer „perfekten“ und in jeder Hinsicht stimmigen Bildfolge.
Wer ins Kino geht und auf die Schnittfehler achtet, ist nicht viel anders als ein Deutschlehrer, der darauf achtet, ob die Leute im Film korrektes Hochdeutsch sprechen.
Besseres Deutsch als Goethe und Schiller wird man wohl kaum vorfinden. Aber ist es für mich auch emotional zugänglich?
Und deswegen ist es kein Unvermögen, wenn Filmemacher ihre Bildfolgen bewusst dreckiger und fehlerhafter machen (also eine Art „Filmslang“ benutzten), damit der Zuschauer das Bild-Geschehen als realistischer und glaubwürdiger annimmt. Erst recht, wenn es sich um einen Genre-Film handelt.
"The Dark Knight":
Ganz ehrlich, die Action ALLEIN macht den Film nicht aus und an und für sich fand ich diese auch nicht besonders schön anzusehen. Aber sie hat funktioniert - man hat verstanden und, was noch wichtiger ist: gefühlt, was da passiert ist.. Hätte man sicher sauberer darstellen können. Die Frage ist, ob damit nicht etwas verlorengegangen wäre.
Und wenn der Zuschauer (bzw. der Regisseur) dann gesagt hätte: "Finde ich langweilig! Funktioniert nicht! Kauf ich nicht ab!" - dann kann der Editor schlecht hingehen und sagen: "Ähm, sorry, aber das Lehrbuch sagt, du musst das jetzt verstanden haben, nachgefühlt haben und toll finden! Ich habe alle Regeln beachtet und alles reingepackt, was die Menschen bisher nachgewiesenermaßen toll fanden."
Der Film ist auf "imdb" sicher nicht so weit oben, weil er so sauber inszeniert ist. Sondern weil er - unterm Strich - ein großes Publikum begeistert hat. Ist es ein Fehler, viele Zuschauer zu begeistern?
Kann man Gesetzmäßigkeiten für erfolgreiche Filme formulieren? Nur eine: „Es muss etwas sein, was der Zuschauer noch nie gesehen hat!“ Wenn es das schon gab, warum sollte man das selbe nochmal zeigen?
Der Punkt ist, dass es funktioniert hat. Nur, das allein ist das Kriterium für "richtig" oder "falsch". Wer weiß, ob die Filmemacher es geschafft hätten, das zu vermitteln, was sie vermitteln wollten, indem sie sich an alle "Lehrbuchregeln" gehalten hätten.
Wird man mit einer dreisten Kopie genausoviele Zuschauer begeistern? Filme ohne jegliche Originalität gehen auf Dauer unter. Die Zuschauer durchschauen dreiste Kopien recht schnell, sofern sie das Original kennen. Also, einspannt euch - das Chaos-Kino ist auch nur ein Trend, der sicher bald wieder durch andere Trends abgelöst wird. Was bleibt, sind die Originale, die den Trend geschaffen haben. Und Filmemacher, die es schaffen, mit bekannten Mustern so umzugehen, dass sie neu und erfrischend wirken (Beispiel: Tarantino, den ich persönlich nicht mag).
k_munic hat geschrieben:
Guckt einer nach links, gucken alle nach links - umso größer der Schock, wenn Freddy Krüger dann von rechts kommt. Bewegung - Gegenbewegung. Beide in die gleiche Richtung - keine 'Gegen'bewegung
Also, du selbst bist doch ein Beweis dafür, dass diese Regel nicht (mehr) funktioniert - etwas, was so vorhersagbar ist, dass sogar „Wahrnehmungs-Psychologen“ sich getraut haben, dieses Muster zu einer Gesetzmäßigkeit zu formulieren, kann ja wohl kaum „schockieren“. Nur das unerwartete und unvorhersehbare ist in der Lage, zu überraschen - zu überrauschen.
Du vergisst, dass die meisten von uns das schon tausendmal gesehen haben. Es ist lange her, seit mich ein Horrorfilm überrascht hat. Ich kenne die Regeln und falle beim 3. Mal sicherlich nicht ein weiteres Mal auf den gleichen Schocktrick rein. Du unterschätzt die Fähigkeit des Menschen, Muster zu erkennen und zu adaptieren. Er stellt sich dann darauf ein. Und willst du ihn überraschen und berühren, musst du dein Muster, deine Spiel- bzw. Erzählweise immer wieder verändern, so dass die Geschichte unvorhersehbar bleibt. Wie das Leben.
Unsere Sehgewohnheiten haben sich nicht geändert - sie sind gewachsen.
Wir sind um einiges „sehgewohnter“ als die Menschen zu Beginn des Film-Zeitalters. Und genau deswegen müssen die Filmemacher stets Regeln brechen, um uns etwas zu zeigen, was wir noch nicht gewohnt sind.
Und glaub mir, die einzige Lehre, die ich aus allen Erfahrungen mit spannenden Auseinandersetzungen in meinem Leben für mich unzweifelbar ziehen kann, ist: du weißt nie, wie es ausgeht. Es ist wie beim Fußball: selbst der größte Fußballexperte kann nicht sagen, wie ein Spiel ausgeht. Und kann er es doch, dann liegt ein extremer Klassenunterschied zwischen den Mannschaften vor. So spannend und unvorhersehbar wie der Box-Kampf Klitschko gegen einen 8-jährigen Schuljungen. So langweilig wie ein Superman-Film (meine Meinung). Die Tatsache, dass der neue Superman kein totaler Misserfolg war (und ein Sequel in der Planung ist), spricht für die Klasse von Zack Snider.
Die Zuschauer von heute haben so viele Filme gesehen - die kennen die Regeln und nehmen ständig Einschätzungen vor. Jeder, der ein paar Krimis oder Actionfilme gesehen hat, fängt an, Muster zu erkennen. Die Geschichte vorausahnen.
Du darfst Achsensprünge machen. Du darfst mit der Kamera wackeln, das Bild unscharf werden lassen und auch sonst gegen jede handwerkliche Regel verstoßen - solange du eins nicht machst: gegen die oberste Regel des Filmemachens verstoßen.
Und wie lautet diese?
„Du sollst nicht langweilen!“ Billy Wilder
P.S.: Der volle Wortlaut von Billy Wilders Weisheit heißt, sofern ich weiß: „Ich habe zehn Gebote. Die ersten neun heißen: Du sollst nicht langweilen. Das zehnte: Du sollst das Recht auf den Endschnitt haben."