Hab den Film gestern im örtlichen (4K-) IMAX-Kino gesehen.
Das war eine teilweise ernüchternde Erfahrung. Erst mal zum Bild:
- Die Digitalrestaurierung ist grösstenteils gelungen in dem Sinne, dass da nicht (wie z.B. bei früheren Digitalüberarbeitungen der originalen Star Wars-Filme) mit dem Holzhammer gearbeitet und brutal ins Material eingegriffen wurde. Allerdings ist auch alles Filmkorn und sind sämtlichen sonstigen Analogfilm-Artefakte/-Signaturen 'raus und sieht der Film jetzt so aus, als ob er mit einer Alexa gedreht worden wäre. Teilweise fielen mir künstliche Nachschärfungen auf, vor allem bei Gesichtern im Halbschatten; aber so etwas dürfte nur jemand sehen, dessen Auge durch die eigene Praxis übersensibilisiert bzw. verdorben ist.
Zum Film an sich:
- Se7en ist bildgestalterisch top, aber ansonsten IMHO nicht so toll gealtert. Aus heutiger Sicht handelt es sich um einen äusserst konventionellen Krimiplot (wie er heutzutage eher in Serien als in Kinofilmen erzählt werden würde), sind alle Charaktere ziemlich eindimensional, stereotyp und machen keine wirkliche Wandlung durch (der abgefuckte, aber weise Grossstadt-Cop kurz vor der Pensionierung, der übereifrige Jungspund vom Lande und seine herzensgute Frau, der teuflisch-geniale Serienkiller), die Dialoge unbemerkenswert, die Schauspieler wenig gefordert in ihren Rollen, und Brad Pitt sogar richtig schlecht (man merkt, dass er in den 90ern noch mehr Werbefilm-Model als Schauspieler war). Auch die Regieleistung finde ich daher im Rückblick weniger beeindruckend. Fincher lässt, wie auch bei den meisten seiner anderen Filme, eine handwerklich perfekt geölte Maschine laufen, aber ein Regisseur wie Scorsese, der im selben Jahr "Casino" machte, hätte aus diesem eher dünnen Drehbuch und den bis auf (in diesem Film auch nicht optimal von der Regie geführten bzw. für meinen Geschmack teilweise zu unsubtil spielenden) Morgan Freeman eher durchschnittlichen Schauspielern viel mehr herausgeholt.
Was damals in den 90er Jahren für einen Mainstream-Hollywoodfilm noch neu, schockierend und grenzüberschreitend war, nämlich die ausgebreiteten Blut-/Gewaltdarstelllungen (zu einer Zeit, in der in Deutschland noch praktisch alle Splatter-Filme durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährende Schrift indiziert oder beschlagnahmt waren), ist es heute nicht mehr. Auch die (eher pseudo-) philosophische Aufladung der Serienmorde durch die sieben Todsünden, die Positionierung des Serienmörders als intellektueller Konzeptkünstler und verkappten Ethiker gegen eine dekadente Konsumgesellschaft etc. ist heutzutage nicht mehr so interessant, wo man sich entsprechende Figuren/Prediger nonstop auf YouTube 'reinziehen kann. Höchstens könnte man dem 1995 erschienenen Film anrechnen, dass er seismographisch Figuren wie den 1996 identifizierten und verhafteten "Unabomber" Ted Kaczynski (der ja damals schon gebombt hat und den Drehbuchautor inspiriert haben könnte) oder Anders Breivik vorwegnimmt.
Was aber überhaupt nicht schlecht gealtert ist, sondern aus heutiger Sicht immer noch sensationell gut ist, sind die Bilder. Und zwar nicht so sehr die Kameraführung, sondern das Produktionsdesign bzw. die Art Direction mit den Schlachtengemälden der Mordszenen (aber auch sonst, wie hier die "grittiness" von New York durch die Innenräume der Wohnungen, des Polizeireviers, der Diners etc. in Szene gesetzt wird). Und zwar bis in kleinste Details wie die Gestaltung der handgeschriebenen Notizbücher etc.pp.
Die eigentlichen Macher-Credits des Films sollte daher IMHO an Gary Wissner gehen, den [jung verstorbenen] Art Director des Films. Hier sein Nachruf aus der LA Times:
Gary Wissner, 37, Produktionsdesigner für bekannte Filme wie „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ und „8MM“, starb am 6. Mai in Los Angeles an den Folgen der Hodgkin-Krankheit.
Wissner, der vor allem für das Design düsterer Thriller, Horror- und Actionfilme bekannt war, beschrieb seine Arbeit als das Erstellen eines „visuellen Drehbuchs“.
Für den Film „8MM“ aus dem Jahr 1999, der im ***-Untergrund von Los Angeles und New York spielt, wählte Wissner für die „normale“ Welt ein blau-graues Farbschema und ging dann zu heißeren Rot- und Gelbtönen für die ***-Sets über.
Der gebürtige New Yorker erwarb einen Hochschulabschluss in Bildender Kunst an der New York University und begann seine Karriere mit der Gestaltung von Szenen für Fernsehwerbung, MTV-Programme und Freizeitparks.
Zu seinen Spielfilmproduktionen gehören „Another 48 Hours“, „Teenage Mutant Ninja Turtles“, „Stephen King's Graveyard Shift“, „Hoffa“, „Wyatt Earp“ und „Seven“. Zuletzt arbeitete er an dem Sylvester-Stallone-Film „D-TOX“.
https://www.latimes.com/archives/la-xpm ... story.html
Das visuelle Drehbuch von "Se7en" funktioniert noch immer, und ist sogar immer noch bahnbrechend, das geschriebene weniger.